Den Menschen hinter der Kachel sehen - Psychosoziale Interaktion in digitalisierten Arbeitsprozessen

Im Zuge der digitalen Transformation haben sich Arbeitsprozesse zunehmend in den virtuellen Raum verlagert. Online-Meetings, Video-Calls und Chats treten an die Stelle von gemeinsamen Begegnungen am Arbeitsplatz; das ‚Betreten‘ und ‚Verlassen‘ eines Raumes geschieht per Mausklick und der digitale Coffee Break löst das Anstehen am Kaffeeautomaten ab … Mit-Arbeit ist zu einer Arbeit auf Abstand geworden, in dem sich zwischenmenschliche Verständigung unter durch Hard- und Software vorstrukturierten Rahmenbedingungen vollzieht.

Welche Auswirkungen haben digitalisierte Kommunikationsformen auf unsere Zusammenarbeit? Welche Rolle spielt die An- bzw. Abwesenheit des menschlichen Körpers unter den Vorzeichen digitaler Sichtbarkeit?

Als systemischer Coach und Tanzwissenschaftlerin bin ich besonders an der Frage interessiert, welche Bedeutung körperliche und raumzeitliche Aspekte für unser zwischenmenschliches Miteinander haben. Fragen von körperlicher Präsenz und choreografischer Organisation berühren ganz unmittelbar die Gestaltung unserer Beziehungen, die den Kern systemischen Coachings bilden. An der IB Hochschule für Gesundheit und Soziales habe ich die Möglichkeit, dieses Interesse im Dialog mit Kolleg*innen aus dem Bereich der Psychologie und Soziologie zu diskutieren. Dabei geht es nicht so sehr darum, Verlusterfahrungen in digitalisierten Kommunikationsformen herauszustellen, sondern innerhalb der veränderten Vorzeichen der Zusammenarbeit ‚den Menschen zu sehen‘.

Eine Schlüsselrolle spielt in diesem Zusammenhang der Begriff der psychosozialen Interaktion, der neben verbalen auch ein breites Spektrum an tradierten nonverbalen Kommunikationsmustern und raumzeitlichen Verhaltensformen umfasst. Dieses Spektrum ist durch die in digitalen Videoplattformen angelegte visuelle Begrenzung auf Gesicht und Brustraum auf die Wahrnehmung von Mimik und Handgestik begrenzt. (Ganz-) körperliche Aktionen und raumzeitliche Dimensionen wie etwa der Gang eines Menschen, seine Haltung, die Möglichkeit sich ab- oder zuzuwenden, Perspektiven zu wechseln und Distanzen zu regulieren sind Eigenschaften, die buchstäblich aus dem kachelförmigen Rahmen fallen.

Um lösungs- und ressourcenorientiert mit digitalisierten Arbeitsprozessen umgehen zu können, benötigen wir eine gesteigerte Aufmerksamkeit für deren Voraussetzungen und Auswirkungen. Wie Studien aus der systemischen Organisations- und Arbeitspsychologie belegen, geht es darum, durch kontinuierlich stattfindende physisch präsente Begegnungen eine vertrauensvolle Grundlage zu schaffen, um auch in digitalisierten Arbeitsprozessen ‚beziehungsfähig‘ handeln zu können (vgl. Bachmann/Bravo 2021 u. 2022; Olson/Olson 2000). Die wiederkehrende gemeinsam geteilte Anwesenheit an dem Ort, an dem sich Menschen begegnen und Zusammenarbeit stattfindet, bildet eine wesentliche Voraussetzung, um ‚virtuelle Distanzen‘ zu überwinden und sich auch ‚hinter der Kachel‘ miteinander zu verbinden.